Sozialraumorientierung: Wo ein Wille, da sind neue Wege...

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27. Mai 2020
Tauchen Sie mit uns in die Lebenswelt von Herrn Müller ein. Ein Mann in höherem Alter, der schon seit einigen Jahren in Pension und verwitwet ist.

Herr Müller lebt in einem kleinen Haus am Land und in seiner Nähe lebt noch sein Sohn mit seiner Frau und den beiden Kindern, die ihn bei Bedarf unterstützen. Langsam fällt es ihm immer schwerer, aufgrund von einer leichten Gehbehinderung, das Haus in Schuss zu halten und kleine Arbeiten zur Reparatur zu verrichten. Aus beruflichen Gründen steht ein Umzug seines Sohnes in ein anderes Bundesland im Raum. Was also tun?

Herr Müller genießt den Austausch mit Menschen vieler Generationen von jung bis alt. Die Vorstellung, in ein Wohnheim für SeniorInnen zu ziehen gefällt ihm gar nicht. Zugleich wächst jedoch der Druck durch die Lebenssituation, die Sorge des Sohnes, der bald nicht mehr in der Nähe ist und das bestehende System - oder die "normale" Vorgangsweise - würden es recht leicht machen, einen Antrag auf ein Zimmer in einem SeniorInnen-Wohnheim zu stellen.

Aber es gibt auch eine andere Möglichkeit!

Zum Glück entsteht in der Nähe eine neue Wohnanlage, die nach einem anderen Konzept funktioniert. Dieses bietet Herrn Müller eine Alternative zum klassischen Wohnplatz im SeniorInnenheim.

Es ist eine neue Wohnhausanlage für Menschen in allen Lebensphasen, mit barrierefreien Wohnungen, die bei Bedarf behindertengerecht nachgerüstet werden können. Neueste Technologien zur Unterstützung beim Wohnen werden je nach Bedarf angeboten. Eine "Sozialraumkoordination" ist als AnsprechpartnerIn vor Ort. Er oder sie kümmert sich um Nachbarschaftsnetzwerke, und um Möglichkeiten zum Kennenlernen der anderen BewohnerInnen in der Wohnhausanlage.

Somit besteht eine gute Chance, weiterhin selbstbestimmt zu leben, mit Menschen in der unmittelbaren Nachbarschaft in Kontakt zu treten, und Unterstützung zu erfahren, um aktiv am Zusammenleben mit vielen Generationen teilzunehmen.

Die Orientierung am Willen der Menschen

Was wird unter dem Willen an sich verstanden? Es wird im philosophischen Kontext der Diskussion über Selbstbestimmung für einen gelebten Willen gesprochen bis hin zum Ausdruck des Willens als konkretes Handeln. Menschen haben oft sehr viele Wünsche, jedoch erst durch das Handeln kommen wir "in Bewegung" und drücken somit den konkreten Willen aus.

Im neurologischen Kontext, der Hirnforschung, wird generell in Frage gestellt, ob es einen "freien Willen" überhaupt gibt.

Um jedoch nicht in die Untiefen der Diskussion über den Willen abzugleiten, muss sich die Diakonie mit der praktischen Umsetzung und einer Annäherung an eine "Willensorientierung" auseinandersetzen.

Es erscheint also wesentlich den Menschen als Experten in den Mittelpunkt zu stellen, ohne ihn jedoch in einer komplex organisierten Landschaft von zahlreichen Angeboten und Unterstützungsmöglichkeiten allein zu lassen. Als sozialwirtschaftliche ExpertInnen ist es also sinnvoll, die Haltung des "zur Verfügung Stellens" einzunehmen. Das bedeutet konsequent, die eigene Expertise bei der Erkundung dessen, was mein Gegenüber will, verständlich zu erläutern und gemeinsam eine Lösung für die gesteckten Ziele meines Gegenübers zu finden.

Wenn wir also wieder an Herrn Müller denken, bedeutet dies, ihm in seiner Lebenssituation zuzuhören, um eine für ihn passende Lösung zu finden und gegebenenfalls zu entwickeln. Bestenfalls ohne den Weg des geringsten Widerstands zu gehen und gängige, gewachsene Strukturen kritisch zu hinterfragen.

Um das Gelingen einer solchen Zusammenarbeit zwischen den Menschen, der Diakonie und ihren PartnerInnen zu erwirken, wird demnach angestrebt, ein hohes Maß an Beteiligung sicherzustellen. Sehr gut greifbar werden diese Bemühungen am Beispiel der Wohnquartiere des Diakoniewerks, die in mehreren Bundesländern betrieben werden.

Eigene Wohnung statt "Einrichtung"

Die sogenannten "Wohn-Quartiere" der Diakonie bestehen meist aus einer größeren Anzahl von Mietwohnungen und dazugehörigen Gemeinschaftsflächen. Ein Teil dieser Wohnungen ist meist speziell für die Bedürfnisse von Menschen im Alter adaptiert. Andere Wohneinheiten bieten Menschen mit speziellen Herausforderungen eine neue, Möglichkeit des selbstbestimmten Wohnens.

So wird für Menschen mit Behinderungen, oder Meschen im Alter, die in der Vergangenheit oft in speziellen "Einrichtungen" gelebt haben, ein neues, möglichst an ihrem eigenen Willen orientiertes Wohnumfeld geboten, das ihren Grad an Selbstbestimmung erhöhen soll – unter anderem durch einen Mix aus professioneller Unterstützung und nachbarschaftlichem Engagement.

Durch ihre Mietverträge sind alle MieterInnen, egal ob Familien, Singles, SeniorInnen, Alleinerziehende oder Menschen mit Beeinträchtigung, automatisch auch "Teil des Quartiersprojekts". Eine Wohnkoordination begleitet diese Quartiere, meist schon seit vor dem Einzug. Ziel der Wohnkoordination ist es, der sehr heterogenen BewohnerInnengruppe ihre eigenen Ressourcen bewusst zu machen und ihnen die Möglichkeit zu bieten, ihren Willen zu äußern, sich entsprechend in ihr soziales Umfeld einzubringen und ihre Nachbarschaft und ihr Lebensumfeld entsprechend ihrem Willen zu gestalten. Dafür braucht es eine konkrete Form von Beteiligung.

Viele "Willen"

Menschen, die in ein Wohn-Quartier einziehen, haben in der Praxis natürlich unterschiedliche Erwartungshaltungen: manche BewohnerInnen lassen sich einfach überraschen, was nach dem Einzug auf sie zukommt, viele Menschen wählen diese Wohnform aber aktiv und haben von sich aus den Wunsch nach einer tragfähigen Gemeinschaft, die ihren persönlichen Grad an Selbstbestimmung erhöht.

In der Praxis werden der Wunsch, von einer aktiven Gemeinschaft zu profitieren, und der Wille, sich auch selbst proaktiv einzubringen, nicht immer gleich stark sein. Und manche BewohnerInnen wollen vielleicht überhaupt möglichst selbständig und somit auch "nicht-vernetzt" leben.

Die Wohn-Koordinator:innen in den WohnQuartieren arbeiten daher immer in einem Spannungsfeld aus zahlreichen "Willen", die zwar auf engem Raum zusammentreffen, aber sehr unterschiedliche Ausprägungen haben können.

Diese unterschiedlichen Willen müssen von der Wohnkoordination erfasst und respektiert werden – auch wenn sie mitunter dem gemeinschaftlichen Konzept eines Quartiers auf den ersten Blick entgegenstehen. Schließlich muss auch der Wille, allein zu leben und seine NachbarInnen nicht kennen zu lernen, seine Berechtigung haben.

Eine Wohnkoordination kann daher immer nur auf die Freiwilligkeit der Mitwirkung setzen. Das Ideal der intensiven Partizipation aller BewohnerInnen kann in der Praxis kaum auf Dauer erreicht werden.

Und: Mitwirkung bedeutet ja immer auch Mitverantwortung für das Gemeinsame. Wie man bei Irene Friedel sieht, lebt sie beides, und ist aus der Sicht ihrer Wohnkoordinatorin jedenfalls eine große Bereicherung für die Gemeinschaft.

Plaudern, Garteln, Erledigungen machen

Unterschiedliche Formate wie Sprechstunden, regelmäßige gemütliche Treffs ohne formalen Charakter oder aber "Planungstreffen" können hier genauso erfolgreiche Angebote sein, wie konkrete, physische Arbeiten an den gemeinschaftlichen Grünflächen oder gemeinsame Sportaktivitäten.

Sobald die BewohnerInnen in ihrer Unterschiedlichkeit im Wohnquartier aufeinander treffen, lernen sie sich kennen, sie können Wünsche, Bedürfnisse und auch ihren Willen äußern. So entwickeln sich Interessensgemeinschaften, Freundschaften und erste Nachbarschaftsnetzwerke zu unterschiedlichsten Themenstellungen.

Manche Eltern werden sich vielleicht zu einem abwechselnden Babysitterdienst zusammenfinden, die SeniorInnen mit dem grünen Daumen das Gemüsebeet im Garten gemeinsam gestalten und somit öfter Bewegung im Freien haben als bisher. Die BewohnerInnen des Erdgeschoßes werden vielleicht einen Flohmarkt organisieren, oder der junge Single aus dem zweiten Stock gelegentlich die gebrechliche Nachbarin bekochen.

Mit der Zeit kann das dazu führen, dass die von der Wohnkoordination "FÜR die MieterInnen" angebotenen Formate weniger häufig werden und übergehen in verschiedenste, "VON den MieterInnen" organisierten Aktivitäten, die das gegenseitige Kennenlernen und Sich-Unterstützen im Quartier fördern.

Der Idealfall

Im Idealfall können derartige gegenseitige Hilfestellungen auf freiwilliger Basis auch Dienstleistungen ersetzen, die sonst von verschiedensten Profis erbracht und bürokratisch abgewickelt werden würden – das betrifft einerseits organisatorische oder handwerkliche Hilfe (von Glühbirnen wechseln über Einkäufe erledigen bis Rasenmähen), aber auch soziale Unterstützung.

Konsequent zu Ende gedacht hieße das aber auch, dass die "Profis", also die ErbringerInnen von Pflege und Betreuung, Sozialarbeit oder Kinder- und Jugendhilfe, ihre zwar hochspezialisierten aber oft sehr starr geregelten Angebote flexibler an die vorhandenen Ressourcen der Lebenswelten anpassen müssten, um individuell Nutzen zu stiften.

Zusammenhalten

In vielen Wohn-Quartieren wird durch die Arbeit einer Wohnkoordination ein Prozess angestoßen, der zutage fördert, welche unterschiedlichen Ressourcen im Quartier vorhanden sind, und auch, wie der Wille ausgeprägt ist, diese Ressourcen einerseits zu nutzen, aber andererseits auch sie überhaupt in die Gemeinschaft einzubringen.

So können vorhandene Ressourcen der Nachbarschaftshilfe, wie z.B. das Erledigen von Einkäufen für Risikogruppen  – besonders auch in Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie – einen Mehrwert für viele BewohnerInnen darstellen.

Denn: Wo lebendige Nachbarschaft bereits aufgebaut wurde, kann diese schneller und besser aktiviert werden, wenn es dringend nötig ist.

Sozialraumorientierung ist die Leitlinie für solche neuen Angebote der Diakonie

Die Diakonie in Österreich entwickelt laufend Angebote für Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen, wie auch das oben beschriebene Wohnkonzept. Mit gängigen Finanzierungsstrukturen und Angeboten in der sozialwirtschaftlichen Landschaft, würde Herr Müller rasch zu einem klassischen Modell eines Wohnplatzes greifen – und das obwohl sein eigentlicher Wille ein anderer gewesen wäre.

Mit einer neuen Wohnung, die seiner Lebensphase - und vor allem seinen Vorstellungen – entspricht, lebt Herr Müller gesünder und erfüllter. Eingebettet in eine Wohnumgebung, in der Unterstützung und Zusammenhalt wieder gelebt werden, kann er trotz seiner Einschränkungen noch am Leben abseits einer Institution teilhaben.

Begleitet durch die Diakonie und ihre PartnerInnen entstehen neue Möglichkeiten, die am Willen der Menschen orientiert sind, und auf lange Sicht volkswirtschaftlich günstiger sind. Und die vor allem den Menschen ein würdevolles Leben bereiten.

Ich bin mein Experte!

Seit einigen Jahren wird fachlich in der Sozialarbeit und auch in der Politik über das Fachkonzept "Sozialraumorientierung" diskutiert, das sich mit solchen Fragen in Hinblick auf Menschen in diversen Lebenssituationen und -abschnitten befasst. Nach vielen Jahren der Entwicklung von Versorgungsstrukturen, die stark von fachlichen ExpertInnen und EntscheidungsträgerInnen geprägt war, wird der Blick in diesem Konzept auf die Menschen gerichtet.

Der Mensch im Hilfssystem ist selbst Experte für seine Lebenswelt.

Wolfgang Hinte, der das Fachkonzept geprägt hat, beschreibt grundlegend fünf Prinzipien der Sozialraumorientierung:

  1. Die Orientierung am Willen der Menschen
  2. Die aktivierende Arbeit vor der betreuenden Arbeit
  3. Die Orientierung an vorhandenen Ressourcen
  4. Zielgruppen und bereichsübergreifendes Arbeiten
  5. Vernetzung und Kooperation von beteiligten Unternehmen und Institutionen

Dieser Artikel ist der erste Teil einer Serie, die sich mit sozialraumorientierter Arbeit und den damit einhergehenden Haltungen im Wirkungsfeld der Diakonie befasst. Im Fokus steht in diesem Text das erste Prinzip - die Orientierung am Willen der Menschen.