Winter auf Lesbos - Katastrophales Elend im Lager Kara Tepe

  • Story
26. Januar 2021
Symbolpolitik statt helfen, retten und evakuieren.

Im Ö1 Interview am Samstag, 23.1.2021 hat sich Innenminister Karl Nehammer neuerlich gegen die Aufnahme von Familien aus dem Elendslager Kara Tepe auf Lesbos verwehrt. Er meint, man würde sich damit in einer „Symbopolitik“ verlieren, die nichts verändere.  - Wir haben uns genauer angesehen, was der Minister damit meint.

Der Minister sagt:  "Über 55 Tonnen an Hilfsgütern sind in Griechenland angekommen. Das ist ein sichtbares Zeichen für Österreichs Hilfe vor Ort“. – Er sagt weiter, die 180 Wohn und Sanitärcontainer seien ebenfalls „ein Faktum um die Umstände vor Ort zu verbessern“. Aus seiner Sicht sei das konkrete Hilfe, die sich nachvollziehen lässt. - Die geforderte Aufnahme von Flüchtlingen hingegen sei aus seiner Sicht Symbolpolitik.

Symbolpolitik – Was ist das?

Von Symbolpolitik lässt sich zu Recht sprechen, wenn sich die Wirklichkeit und die Politik voneinander entfernen. Im Gegensatz zu Nehammers Behauptung ist dieser Umstand gerade durch die angebliche österreichische „Hilfe vor Ort“ vollständig eingetreten.
Abgesehen davon ist die Rettung auch einzelner Menschen für die Geretteten immer konkrete Hilfe und nie symbolisch. Wem kommt da nicht der Spruch aus dem Talmud in den Sinn: Wer einen Menschen rettet, der rettet die ganze Welt“? - Die Rettung als nicht notwendige Symbolpolitik zu diffamieren, ist in Wahrheit eine politische Instrumentalisierung der Nicht-Geretteten.

Schutzbedürftige Menschen werden so nämlich zu politischen Gefangenen einer völlig entgleisten nationalen und auch europäischen Asylpolitik.

Zu den Fakten der österreichischen „Hilfe vor Ort“

Hilfsgüter

„Über 55 Tonnen an Hilfsgütern sind in Griechenland angekommen“, sagt der Innenminister.

Das ist gut möglich. Auf Lesbos oder den anderen Standorten der Elendslager auf den griechischen Inseln wurde nicht viel davon bemerkt.

Von den 400 von Minister Nehammer medienwirksam ins Land geflogenen Zelten wurden vier Monate nach dem Brand in Kara Tepe 25 Stück aufgestellt. Die mitgelieferten Heizgeräte sind mit 3.000 Wattstunden strombetrieben, und damit in einem Lager ohne ausreichende Stromversorgung unbrauchbar. 

Wohn und Sanitärcontainer

„Die 180 Wohn und Sanitärcontainer sind ebenfalls ein Faktum, um die Umstände vor Ort zu verbessern“, sagt der Innenminister.

Die Container, es sind sogar 181, befinden sich tatsächlich in Griechenland. Doch wurden sie nicht eingesetzt um wenigstens ein paar Familien aus den kalten feuchten Zelten auf den Inseln in eine trockene Behausung zu bringen. Sie stehen im Abschiebelager Camp Kleidi an der Grenze zu Bulgarien, wie Minister Nehammer selbst in einer Antwort an die NEOS ausführt. Die unmenschlichen Umstände in den Elendslagern auf den griechischen Inseln verbessern sie somit definitiv nicht. (Quelle: parlamentarische Anfrage)

 „Die Griechen verbessern die Situation“, sagt der Innenminister

Minister Nehammer ist voll des Lobes für die „griechische Regierung, die Österreich in allen Maßnahmen unterstütze um die auch für ihn als Familienvater unerträgliche Situation zu verbessern“, sagt der Innenminister. Es sei jetzt eine konservative Regierung in der Verantwortung, die „wirklich bemüht“ sei, eine Asylstruktur aufzubauen. Es gebe nämlich „keine Asylkultur in Griechenland“. Bisher sei nicht klar gewesen, wenn jemand dort einen Asylantrag stellt, ob er oder sie tatsächlich Asyl erhalte, „und wie es dann weitergehe“.

Asylkultur – Was ist das?

Mit der Formulierung „Asylkultur“ spielt Minister Nehammer vermutlich nicht auf die alttestamentarische Kultur des Tempelasyls an, sondern meint die völkerrechtliche Verpflichtung zur menschenwürdigen Versorgung von Schutzsuchenden und anerkannten Flüchtlingen.

Und es ist tatsächlich so: Griechenlands Asylsystem weist derart dramatische Defizite auf, die im Jahr 2011 zu einer Verurteilung von Griechenland wegen der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung eines Asylsuchenden geführt hatte. - Seither werden von den anderen EU-Ländern keine Asylsuchenden mehr nach Griechenland zurückgeschickt, auch wenn das Land theoretisch als „Erstland“ für die Asylverfahren zuständig wäre.

ABER: Gibt es tatsächlich eine Besserung durch die konservative Regierung?

Das Urteil der mit dem internationalen UNHCR-Preis („Nansen Preis") ausgezeichnete Menschenenrechts-Aktivistin Efi Latsoudi zur Frage wie sie die Zustände im Lager Kara Tepe auf Lesbos bezeichnen würde, fällt deutlich aus: "Es ist Folter!" - Derzeit sind mindestens 8 Fälle von Flüchtlingen aus den griechischen Elendslagern auf Chios, Kos, Lesvos and Samos beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof anhängig. Das Gericht hat jetzt Griechenland zur Stellungnahme aufgefordert.

Die von Minister Nehammer ausgemachte Etablierung einer „Asylkultur“ durch die konservative griechische Regierung sind derzeit mit freiem Auge jedenfalls nicht auszumachen.

„Hilfe vor Ort“ anstatt Menschen zu evakuieren? 

Der Innenminister sagt, es sei „wichtig in Griechenland vor Ort zu helfen, um dort Stabilität zu geben und Perspektiven zu schaffen: Auch bei schnelleren Asylverfahren, Grenzsicherung, Rückführung von Menschen die keine Bleibeberechtigung in der EU haben. Auch das gehöre dazu, dass Griechenland in dieser Situation nicht allein gelassen werde“.

Griechenland unterstützen – wie geht das?

Es ist kein Geheimnis, dass Griechenland nicht alleine die Verantwortung für die Flüchtlingsaufnahme in Europa übernehmen kann. Sämtliche Reformen der ungerechten Dublin-Regel sind jedoch gescheitert. Und Österreich hat sich unter Bundeskanzler Kurz schon vor Jahren an die Spitze der Verhinderer einer solidarischen EU-Aufnahmepolitik gestellt.

Es sind die europäischen Staats- und Regierungschefs, die Griechenland mit ihrer Asylpolitik in eine ausweglose Situation manövriert haben. Diese Ausweglosigkeit führt bereits zu schweren Menschenrechtsverbrechen in Griechenland

Medien decken auf

Es sind immer mehr Medien (Der Spiegel, ARD, Lighthouse Report, u.a), die über die Verbrechen der griechischen Küstenwache berichten, die Flüchtlinge systematisch auf dem offenen auf dem Meer aussetzen. Sie haben darüber hinaus enthüllt, dass Frontex in diese illegalen Pushbacks verwickelt ist.

Aktuelle Verfahren gegen Griechenland vor dem Menschenrechts-Gericht

Ein besonders dramatischer Fall, der am Menschenrechts-Gerichtshof (EGMR) in Straßburg anhängig ist, betrifft eine Frau, die im Dezember 2019 nach Griechenland kam. Sie war HIV positiv, dabei aber asymptomatisch. In Moria wurde sie nicht untersucht und sie bekam keine HIV Behandlung, obwohl sie darum gebeten hatte. Ihr wurde sowohl eine HIV Therapie, als auch ein Verlegung in ein Spital verweigert, was dazu führte, dass sie Blut hustete, schwere Hautausschläge, Fieber, Appetitlosigkeit und Durchfall bekam. Nach ihrer Ankunft in Griechenland verlor sie ungefähr 20 kg Gewicht. Ende Mai 2020, mehr als sechs Monate nach ihrer Ankunft in Griechenland, wurde bei ihr HIV-bedingter Blutkrebs diagnostiziert. Die Unterbringungssituation in Moria und die Verweigerung der HIV Therapie haben die Situation der Frau erheblich verschlechtert, ihre Menschenwürde verletzt und ihr Leben in große Gefahr gebracht.

Abschreckungspolitik Griechenlands: Asylrecht wurde durch die konservative Regierung temporär ausgesetzt

Der griechische Premierminister Mitsotakis hat am 01. März 2020 verkündet: „Unser nationaler Sicherheitsrat hat beschlossen, die Abschreckung an unseren Grenzen maximal zu erhöhen. Ab sofort werden wir für einen Monat lang keine neuen Asylanträge mehr annehmen“. Griechenland hatte mit dieser Ankündigung kurzerhand die Genfer Flüchtlingskonvention - und damit auch das Recht auf ein Asylverfahren nach der Europäischen Grundrechtecharta - ausgehebelt. Die Empörung Europas blieb jedoch aus. Auch aus Österreich kam zu dieser Ankündigung eines Völkerrechtsbruches keine Reaktion.

Inzwischen kommt es zu immer dramatischeren Menschenrechtsverletzungen.

Griechenland braucht daher keine weitere Unterstützung bei Grenzsicherung und Rückführung von Menschen in die Fluchtländer. Sondern im Gegenteil:

Damit Griechenland die europäischen Grundrechte einhalten kann, braucht es Menschenrechts-BeobachterInnen, die die illegalen Push-Backs aufzeigen, und Gerichte, die diese Verbrechen ahnden. – Die beschriebene bisherige „Unterstützung“ hilft Griechenland dabei, Rechtsbruch und Menschenrechtsverletzungen zu begehen. Die EU und Österreich dürfen sich hier nicht zu Komplizen machen.

Mit Geld und „Hilfe vor Ort“ lässt sich diese verfahrene Situation nicht aufbrechen. Schon der deutsch-französischer Arzt, Philosoph und evangelische Theologe Albert Schweitzer sagte: „Humanität besteht darin, dass niemals ein Mensch einem Zweck geopfert wird.“

Die Humanität gebietet es, endlich an solidarischen Lösungen für die Zukunft zu arbeiten. Bis es soweit ist, müssen die Menschen aus dieser Hölle auf europäischem Boden evakuiert werden!

Zur Nicht-Versorgung von anerkannten Flüchtlingen in Griechenland

Inzwischen befinden sich in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln auch viele Menschen, die bereits einen offiziellen Schutzstatus erhalten haben. Sie haben keinen Zugang mehr zu staatlicher Unterstützung, können aber auch die Inseln nicht verlassen.

Auf dem griechischen Festland bieten die meisten Flüchtlingslager zwar eine bessere Versorgung, als auf den Inseln. Die Situation für Flüchtlinge mit offiziellem Schutzstatus ist jedoch auch dort katastrophal. Sie finden meist keinen Zugang zu Sozialleistungen. Tausende leben in Athen und Thessaloniki ohne Unterkunft und sind auf die Versorgung durch karitative Organisationen angewiesen. Viele anerkannte Flüchtlinge sind sogar inzwischen in die Elendslager auf den griechischen Inseln zurückgekehrt, weil sie die Obdachlosigkeit auf dem Festland noch weniger ertrugen. 

Autor:innen

Mag. Christoph Riedl
Grundlagen & Advocacy
Sozialexperte Migration, Asyl, Integration, Menschenrechte