Österreichs Umgang mit Unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen

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21. Juni 2021
Unterbringung in Erwachsenen-Quartieren, lange Verfahrensdauer, die eine Familienzusammenführung verunmöglichen und niemand, der für geflüchtete Kinder und Jugendliche verantwortlich ist. Wir berichten über die Situation von Unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Österreich.

Geflüchtete Kinder und Jugendliche, die nach langer gefährlicher Flucht Österreich alleine erreichen, mussten entweder ohne Familie ihr Zuhause verlassen oder wurden auf der Flucht von ihr getrennt. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben ihre Familien oft jahrelang nicht mehr gesehen und sind in Österreich so lange auf sich alleine gestellt, bis die Kinder- und Jugendhilfe die Obsorge übernimmt. Das kann oft Monate – in seltenen Fällen sogar Jahre – dauern. Denn das österreichische Asylsystem ignoriert, dass es sich bei Unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen um Kinder handelt. Um Kinder, die oft unsagbares Leid miterlebt und überlebt haben, und die ab dem ersten Tag begleitet und geschützt werden müssen.

Keine kindgerechte Unterbringung und fehlende Obsorge im Zulassungsverfahren

Wenn Flüchtlinge in Österreich um Asyl ansuchen, wird zuerst im Zulassungsverfahren festgestellt, ob der Antrag inhaltlich überhaupt geprüft werden wird, oder ob ein anderes europäisches Land dafür zuständig ist. Bis das entschieden ist, verstreicht oft viel Zeit. Wertvolle Zeit, in der Kinder keine Schule besuchen können und in der sie nicht kindgerecht betreut und untergebracht sind.

Denn bis das Zulassungsverfahren entschieden ist, sind die Kinder wie erwachsene Asylsuchende in einem Erstaufnahmezentrum untergebracht, das nicht auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen ausgerichtet ist. Erst, wenn das Zulassungsverfahren positiv entschieden ist, übernimmt die Kinder- und Jugendhilfe die Obsorge, und das jeweilige Kind bekommt eine Person zur Seite gestellt, die sich um seine Angelegenheiten persönlich kümmert.

Im April 2021 befanden sich 150 Kinder und Jugendliche im Zulassungsverfahren und waren im Lager Traiskirchen untergebracht. Einer von ihnen ist Abbas*, der mit 15 Jahren nach Österreich gekommen ist und mittlerweile seit fast zwei Jahren abwechselnd in Traiskirchen und im Bundesquartier Reichenau untergebracht ist. Sein Zulassungsverfahren wurde negativ entschieden, weil er bereits in Griechenland registriert ist. Die Diakonie hat dagegen Beschwerde eingelegt, weil Abbas in Griechenland alleine nicht überlebensfähig wäre. Seit zwei Jahren kann er weder eine Schule noch einen Deutschkurs besuchen. Sein psychischer Zustand hat sich zusehends verschlechtert. Die Diakonie setzt sich weiterhin dafür ein, dass Abbas hier einen Asylantrag stellen darf. Die Wiener Wochenzeitung Der Falter berichtet über diesen Fall hier.

Entscheidende Erstbefragung ohne erwachsene Unterstützung

Bei der Erstbefragung, die im Rahmen des Zulassungsverfahrens durch die Polizei vorgenommen wird, sind die Kinder auf sich alleine gestellt. Sie sitzen Polizist:innen gegenüber, ihre Fingerabdrücke werden genommen und sie müssen Fragen zu ihren Fluchtgründen, ihrer Fluchtroute, ihrer Familie, ihres Alters und ihrer Staatsbürgerschaft beantworten. Diese für geflüchtete Kinder ohnehin überfordernden Fragen werden in einem Setting gestellt, das die Kinder in äußerste Anspannung versetzt, verängstig und einschüchtert. Dabei entscheidet allerdings die Erstbefragung, ob der Junge oder das Mädchen zum Asylverfahren in  Österreich zugelassen wird, und ob sie oder er damit überhaupt eine Chance auf ein Leben in Sicherheit hat.

Die Antworten, die der junge Mensch in der Erstbefragung gibt, fließen auch in das spätere Asylverfahren ein. Wenn die Jugendlichen aus Nervosität oder aufgrund von Sprachbarrieren in der Erstbefragung ihre Fluchtgründe ungenau schildern, kann ihnen das im Asylverfahren zum Nachteil ausgelegt werden.

Endet das Zulassungsverfahren mit einer negativen Entscheidung, kann dagegen noch Beschwerde eingelegt werden.

Andrea Goldberger leitet die Rechtsberatung der Diakonie und fasst die Problematik der langen Zulassungsverfahren so zusammen: „Die langen Verfahrensdauern sind für die jungen Menschen zermürbend. In Juristensprache sagt man: sie gefährden insgesamt das Kindeswohl. Dies, weil einerseits in dieser Zeit niemand die Obsorge für die Kinder übernimmt. Und andererseits, weil sie eine Familienzusammenführung verunmöglichen können, wenn die Jugendlichen in der Zwischenzeit volljährig werden“. Das heißt, dass diese Jugendlichen, wenn sie letztlich doch in Österreich bleiben dürfen, ihre Eltern und Geschwister vielleicht nie mehr sehen können.“

Kinder wie Kinder behandeln – auch im Asylverfahren!

Wenn im Zulassungsverfahren festgestellt wird, dass der Asylantrag inhaltlich geprüft wird, endet die Unterbringung im Erstaufnahmezentrum und sie werden in die Grundversorgung entlassen. Obwohl sie eigentlich in UMF-Quartiere der Länder untergebracht werden sollten, zeigt die Praxis, dass viele UMF in Quartiere für Erwachsene verlegt werden. Dort gibt es kein sozialpädagogisch geschultes Personal, das sich um die Anliegen der Kinder und Jugendlichen kümmert, sich ihren Sorgen und Ängste annimmt und sie auf den ersten Schritten in eine sichere und unabhängige Zukunft begleitet.

Fragenkatalog für Erwachsene auch bei geflüchteten Kindern

Geflüchtete erwarten voller Hoffnung, Zuversicht aber auch Bangen und Unsicherheit die erste Einvernahme – das erste „Interview“ – beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl. Die Einvernahmen dauern oft mehrere Stunden. Auch bei Kindern und Jugendlichen sind Einvernahmen mit einer Dauer von 5-6 Stunden keine Seltenheit.

Die Beamt:innen sind im Umgang mit Kindern und Jugendlichen nicht verpflichtend geschult und verwenden zumeist den gleichen Fragenkatalog wie bei Erwachsenen. So berichten Rechtsberater:innen von einem 11-Jährigen, der gefragt wurde, ob er verheiratet ist, Kinder hat und welchen Beruf er zuletzt ausgeübt hat. Über die teils fragwürdigen und abwertenden Befragungen sowie Asylentscheide des BFA wurde bereits mehrfach berichtet. Unter anderem hier:

Mit subsidiärem Schutz sind Familienzusammenführungen schwer möglich

Viele geflüchtete Kinder und Jugendliche erhalten den sogenannten „subsidiären Schutz“. Mit diesem Aufenthaltsrecht ist es erst nach drei Jahren möglich, die Familie nach Österreich zu holen. Sie bleiben also lange Zeit ohne Eltern und ohne Geschwister. In einem Alter, wo sie die Familie am meisten brauchen. Sobald die Jugendlichen die gesetzliche Volljährigkeit erreicht haben (18 Jahre), ist eine Familienzusammenführung nicht mehr möglich.

Insgesamt dauern die Asylverfahren viel zu lang. Oft haben die Jugendlichen dann schon die Volljährigkeit erreicht, sind seit Jahren in Österreich sozialisiert und haben an einer Zukunft in Österreich gearbeitet. Wird ihr Fall negativ entschieden, bricht für sie eine Welt zusammen und im Falle einer Abschiebung ist ihr Leben erneut bedroht.

Die Diakonie ist in einzelnen Regionen und Bundesländern mit der gesetzlichen Vertretung von Unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen im Asylverfahren betraut.

*Name der Redaktion bekannt

Die Forderungen, die die Diakonie an die politisch Verantwortlichen stellt 

Alle Kinder und Jugendlichen in Österreich verdienen die gleichen Rechte, dieselbe Fürsorge und dieselben Zukunftschancen. Geflüchtete Kinder haben in ihren jungen Jahren schon viel menschenverursachtes Leid erlebt, wurden als Arbeitskraft ausgebeutet, haben Folter überlebt und mussten mitansehen, wie die eigene Familie bedroht und verfolgt wurde, wie Häuser zerbombt wurden. Geflüchtete Kinder und Jugendliche müssen daher umso mehr in österreichischen Institutionen und Behörden gut aufgehoben sein und eine entsprechende Fürsorge und Betreuung erfahren. Damit die Situation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen verbessert werden kann, fordert die Diakonie:

 

Verantwortung und Klarheit: Übernahme von Verantwortung: Obsorge und Rechtsvertretung ab 1. Tag, damit keine Handlungen von Behörden ohne Kenntnis und Beisein der Obsorgeberechtigten bzw. der Rechtsvertretung mehr möglich sind. Damit: Klarheit in der Zuständigkeit und Abläufen ab Tag 1. Die Teilnahme der rechtlichen Vertretung bei allen Einvernahmen muss verpflichtend sein. Die Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht (2. Instanz) müssen unbedingt beschleunigt werden.

Im Zweifel für das Kind als Grundsatz verankern: Im Verfahren und in der Unterbringung. Kinder sollten immer als Kinder wahrgenommen und Aussagen als Aussagen von Kindern gewichtet werden: Das heißt: Adäquate Unterbringung jedenfalls vor Ergebnis einer Altersfeststellung. Also schnelle und unmittelbare Transfers aus der Bundesbetreuung in eine adäquate Landesunterbringung. (Nach Standards der Kinder- und Jugendhilfe, dafür notwendig: Anhebung der Tagsätze).  

Kinder- und jugendgerechte Befragungen: Der Fragenkatalog beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl soll durch eine:n Kinderpsycholog:in überprüft werden. Für BFA Einvernahme-Leiter:innen und Polizei muss es verpflichtende UNHCR Schulungen zu kinder- und jugendgerechten Befragungen geben. Ein Entsprechendes UNHCR Monitoring von Einvernahmen und polizeilichen Erstbefragungen muss etabliert werden.

Dringende Gesetzesanpassung: Aufhebung der 3- jährigen Wartefrist zur Familienzusammenführung bei UMF (Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, auch für unmündige Mj.)  mit subsidiärem Schutz.

Einrichtung einer niederschwelligen Ombudsstelle für alle Belange der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge.