Teil 4: Was heißt „religiös und weltanschaulich neutral“?

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24. März 2017
Freiheit ist nicht unbeschränkt sondern findet ihre Grenze immer in der Freiheit der anderen.

Eine Initiative von www.unsereverfassung.at in Zusammenarbeit mit dem Institut für öffentliche Theologie und Ethik der Diakonie.

In politischen Reden und Diskussionen ist wieder viel von Identität und Kultur die Rede. Globalisierung, Migration und „falsch verstandene Toleranz“ (in manchen Ländern auch „der Liberalismus“) bedrohen sie, heißt es. Es wird gefordert, dass Menschen, die in einem Staat leben, sich anpassen und einfügen, denn der Staat sei auf Einheit und Zusammenhalt angewiesen. Wenn es um Religion geht, ist dann zum einen von „weltanschaulicher und religiöser Neutralität“ die Rede, zum anderen wird aber auch die „christliche Leitkultur“ oder das „christliche Erbe“ betont.

Staaten sind also keineswegs „neutral“, und jene, die im Staat Ämter und Macht ausüben, tun dies nicht von einem unabhängigen Standpunkt aus.

Nun hat jeder Staat eine besondere Geschichte. Auf sie wird in Verfassungen Bezug genommen, an sie wird in Staatsakten, an Feiertagen und in Denkmälern erinnert. Sie wird in den Schulen unterrichtet. In den meisten europäischen Staaten gibt es nur eine offizielle Amtssprache. Und viele Gesetze haben das Ziel, ganz bestimmten Anliegen und Programmen zur Durchsetzung zu verhelfen. Staaten sind also keineswegs „neutral“, und jene, die im Staat (in Politik und Verwaltung) Ämter und Macht ausüben, tun dies nicht von einem unabhängigen Standpunkt aus.

Aber: Die Vorstellung des modernen demokratischen Rechtsstaats ist davon geprägt, dass er Einheit dadurch herstellt, dass er in einem bestimmten Gebiet eine Rechtsordnung und deren Durchsetzung garantiert. Demgegenüber ist die Gesellschaft vielfältig. Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten sind in ihr normal. Dort, wo allen Menschen die gleiche Freiheit zukommt, soll der Staat diese achten und garantieren. Er soll nicht vorschreiben, wie Freiheit mit Leben erfüllt wird. Er soll aber im Interesse des friedlichen Zusammenlebens garantieren, dass die Freiheit des anderen von jedem geachtet wird. Freiheit ist nicht unbeschränkt sondern findet ihre Grenze immer in der Freiheit der anderen.

Der Staat soll also weder eine bestimmte Religion bevorzugen, noch soll er Religion aus dem öffentlichen Bereich ausschließen.

Wenn wir in Österreich (oder auch in Deutschland) jetzt von religiös-weltanschaulicher Neutralität sprechen, ist gemeint, dass der Staat in fairer und diskriminierungsfreier Weise mit der religiösen und weltanschaulichen Vielfalt umgeht. Er soll also weder eine bestimmte Religion bevorzugen, noch soll er Religion aus dem öffentlichen Bereich ausschließen. Das heißt konkret, dass ein staatliches Gericht nicht religiöse Vorschriften auslegen darf. Es darf also nicht die Bibel oder den Koran heranziehen, um ein bestimmtes Verhalten (z. B. das Tragen einer Kopfbedeckung) zu beurteilen. Das heißt konsequenterweise aber auch, dass der Staat nicht einen Sonderstatus für bestimmte religiöse Symbole festlegt, weil diese „zur Kultur“ gehören. Dann werden nämlich Kultur und Religion vermischt.

Religiös-weltanschauliche Neutralität wird auch als Nicht-Identifikation beschrieben: der Staat soll sich nicht (exklusiv) mit einer Religion oder Weltanschauung identifizieren. Er soll alle gleich behandeln. Wobei (und das macht es zugegebenermaßen schwierig) Gleichbehandlung nicht heißt, dass alle „über einen Kamm geschoren werden.“ Denn da kann sich schnell herausstellen, dass „der Kamm“ durch Geschichte, Kultur oder politische Ideen geformt ist, und dass er im Ergebnis zur Benachteiligung oder Zurückweisung einzelner Religionsgemeinschaften oder Weltanschauungen führt.

Daher kann es auch ein Zeichen von Neutralität sein, wenn in bestimmten Fällen unterschiedlich vorgegangen wird (das werden wir noch an ganz konkreten Beispielen zeigen). Ebenso kann es Ausdruck der Neutralität sein, wenn staatliche Stellen im Austausch mit Religionsgemeinschaften stehen, wenn diese im öffentlichen und kulturellen Leben (z. B. auch in Schulen) präsent sind, oder wenn Dienstkleidung von Beamtinnen und Beamten so gestaltet wird, dass sie auch mit Kleidungsstücken, die Menschen aus religiösen Gründen tragen, kombiniert werden kann (z. B. Sikh-Turban und Bundesheeruniform).

Entscheidend ist: bei der Ausübung eines öffentlichen Amtes muss eine unabhängige, an der Verfassung und den Gesetzen ausgerichtete, Amtsführung gegeben sein. Wenn Zweifel – in einem konkreten Fall! – bestehen, kann z. B. in einem Gerichtsverfahren vorgebracht werden, dass der Richter „befangen“ ist. Dann muss ein anderer entscheiden.

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